skip to Main Content
Wellen

Leben und stürzen

Stürze schütteln nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Erschüttert steht man wieder auf.

Seit meinem letzten Sturz mit Folgen habe ich viele Reaktionen erhalten. Gute Besserungswünsche, Aufmunterungen, aber auch Kommentare, wie: «In Deinem Alter musst Du aufpassen! Du bist nicht mehr der Jüngste!» Irgendwie hat mich das nachdenklich gestimmt. Bin ich nicht mehr der Jüngste? Bin ich zu unvorsichtig für mein Alter? Bin ich zu naiv, und stürze mich immer noch in jede Abfahrt? Ich habe nachstudiert, ob es einen Zusammenhang zwischen meinen Stürzen «über 50» oder der Lebenszeit davor gibt. Und habe viele meiner Stürze, die ich noch im Gedächtnis habe, oder deren Narben ich noch sehe, hier mal aufgezeichnet.

Sturzliste aus der Erinnerung

2021 Langlaufsturz mit Abschürfungen nach unterschätzter Eisloipenspur

2020 Langlaufsturz mit Rippenbrüchen nach Technikfehler

2015 Veloüberschlag am Flüelapass mit Rippenbrüchen nach beinahe Motorrad-Kollision

2012 Velosturz mit Schürfungen in Klosters auf vereister Fahrbahn (es war November)

2002 Inlinesturz mit Rippenprellungen

1994 Bänderriss beim Laufen

1986 Veloüberschlag bei Velorennen inkl. Landung auf dem Kopf

1984 Erstes Velorennen zwischen Ilanz und Vals mit Sturz in Zaun

1984 und früher x-Stürze auf den Kies- und Kopfsteinpflasterstrassen in Ardez mit dem Velo

1984 und früher x-Stürze auf den alpin Skis

Fazit aller Stürze bisher: nur einmal bin ich für eine Nacht im Spital gelandet. Sonst, nach der Notfallbehandlung, durfte ich immer wieder nach Hause. War es Glück?

Sicherlich ist bei jedem Sturz immer wieder auch Glück im Spiel, wenn nichts Schlimmeres geschieht. Es geht um Zentimeter ob man das Motorrad oder den Baum frontal erwischt oder eben gerade noch vorbeikommt.

Ich habe einen Riesenrespekt vor den Stürzen. Mit einem Kletterer habe ich einmal über’s Stürzen geredet. Auf meine Frage, warum er Angst vor dem Stürzen habe, antwortete er: «Weil es einfach unglaublich schmerzt.» Ja, das ist es. Es ist bei mir jedesmal diese Angst, wenn ich spüre, dass der Sturz unausweichlich ist. Es sind Bruchteile von einer Sekunde, wo man aus Erfahrung weiss, dass es womöglich bald schmerzen wird. Der Ausgang vom Sturz bleibt in dieser kurzen Zeitspanne zwischen Sturzauslösung und Sturzende offen. In diesen Millisekunden geschieht Entscheidendes: Mit der Erfahrung, mit jedem Sturz mehr, bekommen wir auch Erfahrung im Stürzen selber. Diese Woche beim Langlaufsturz wusste ich, wie ich stürzen musste, damit ich die Rippen nicht wieder brechen würde. In einer Mischung aus Erfahrung und Intuition habe ich mich für eine gewisse Form des Stürzens entschieden.

Doch immer ist es nicht so. Manchmal hat man im Leben gar keine Chance eine Option zu wählen. Wenn es sein muss, trifft das Unausweichliche ein.

Ich glaube, dass ich immer wieder stürzen muss, damit ich auch beim Stürzen erfahrener werden. Leben heisst auch stürzen. Mit 20, mit 50, immer wieder.

Fotografie:
Das blaue Wunder/Ernst Bromeis